Was sehen Sie hier?

In Bildern sieht jeder Betrachter immer auch etwas von seinem Inneren. Es ist ein wenig so, als würden die Lichtwellen, die das Objekt reflektiert in meinem Inneren etwas erhellen. Aber eben nur etwas, das auch da ist.

Was sehen Sie hier?
Nilo Hansen Tempera und Öl auf Leinwand 80 x 60

In Bildern sieht jeder Betrachter immer auch etwas von seinem Inneren. Es ist ein wenig so, als würden die Lichtwellen, die das Objekt reflektiert in meinem Inneren etwas erhellen. Aber eben nur etwas, das auch da ist. So kommt es, das jeder ein Bild mit anderen Augen sieht. Das Bild löst etwas in uns aus wenn etwas in uns drin ist, was ausgelöst werden kann.

Ich kann mich schemenhaft an eine Ausstellung von Bildern des berühmten abstrakten Malers Marc Rothko erinnern. In einem teNeues Heftchen hatte ich einiges über ihn gelesen. Von einer in gewissem Sinne dadurch entstandenen Voreingenommenheit abgesehen beeindruckten mich seine Bilder schon, da sie Gefühle anregten, die offensichtlich in mir drin waren und durch die Betrachtung zum erklingen gebracht wurden. Allerdings ging meine Voreingenommenheit damals so weit, das ich auf das wartete, was in dem kleinen Heftchen über die Wirkung von Rothkos Bildern geschrieben stand: Es erlebten gelegentlich Menschen sehr heftige emotionale Vulkanausbrüche bis dahin, dass sie vor seinen Bildern weinend zusammenbrachen. Eine derartige Reaktion genauestens beobachtend, wandelte ich durch die Ausstellung. Aber der Zusammenbruch blieb aus. Mein Inneres konnte oder wollte nicht in der beschriebenen Weise auf die von Rothko ausgesendeten Lichtwellen reagieren.

Wenn die Bilder doch aber die selben sind, die von denen betrachtet wurden, welche die beschriebenen heftigsten Reaktionen vorweisen konnten, dann konnte das nur bedeuten, dass meine Fähigkeit Gefühle zu haben verkümmert sein musste. Ich war verstört.

Natürlich viel mir später auch auf, dass kein einziger Besucher von heftigen Gefühlsausbrüchen geschüttelt wurde, ich sozusagen keine Ausnahme, sondern offensichtlich ehr die Regel sein musste. Zumindest war mir während meines zweistündigen Besuches der Ausstellung kein einziger in Weinkrämpfe ausbrechender Besucher vor die Füße gefallen.

Ob ein Künstler, der ein Werk schafft, die Absicht hat, im Rezipienten eine bestimmte Gefühlslage oder überhaupt eine bestimmte Wirkung zu erzielen, sei dahingestellt. Es ist wohl oft so. Aber ebenso häufig projiziert der Künstler vielleicht auch nur seine eigene Gefühlslage auf eine Leinwand. Man kann sich dann davon angeregt fühlen oder es bleiben lassen. Es liegt in einem jeden drin.

Ein Bild ist am Ende einfach nur ein Bild. Etwas Materie, die Lichtwellen reflektiert. Was diese Lichtwellen mit mir machen ist ganz allein mein Problem. Das kann aber doch nur bedeuten, dass das was wir Kunst nennen in Wahrheit überhaupt nicht gibt. Schließlich gibt es Bilder in jedweder Form, nicht nur als Kunst in einem Museum. Ein Blick in den Wald kann ein größeres inneres Erlebnis auslösen als ein Blick auf einen (hier Lieblings-Landschaftsmaler einsetzen).

Am Ende reduziert sich alles auf Sinneswahrnehmung, sonst nichts. Ich kann ein kleines Kind beim spielen betrachten und Gefühle haben oder ich kann einen kleinen Hund beim spielen zusehen und Gefühle haben. Oder eben nicht.

Allerdings fällt bei näherer Betrachtung schnell auf, das neben der menschlichen Fähigkeit mit Emotionen auf Lichtwellen zu reagieren noch andere Faktoren eine Rolle spielen. Es kann auch zu intellektuellen Reaktionen kommen. Man hat Gedanken, Assoziationen, es steigen andere Bilder in einem auf, wenn man eine Szene, eine Landschaft, einen Menschen oder ein Bild von all dem betrachtet. Diese intellektuellen Reaktionen können zusätzlich zu den Emotionen oder auch einzeln, isoliert auftreten.

Welcher Art sie sind, hängt offensichtlich von vielen Faktoren ab, aber sie begründen sich immer auf dem, was in einem drin ist. Ich kann nichts reflektieren, was ich nicht habe, was nicht auf irgend einem Wege in mich hineingekommen ist. Alles was ich erlebt habe, meine Erfahrungen, meine gespeicherten Emotionen, die vielen Bilder mit denen ich vergleichen kann, erworbenes Wissen, all das wird beim Sehen in Beziehung gebracht. Ein neues Bild, das in mich eindringt, erweitert die Sammlung, an welcher Stelle es einsortiert wird, bestimmen aber die Bilder, die schon drin sind. Die Betrachtung eines Kunstwerkes, oder eines realen Bildes, einer Szene oder einer Fiktion, wie sie zum Beispiel beim Konsum von Literatur entsteht, ist daher nichts anderes als eine Begegnung mit sich selbst. Wir sehen uns selbst im Bild. Wir brauchen die Außenwelt um eine Innenwelt zu haben. Wir brauchen die Reflexion um ICH sein zu können. Wir brauchen den Blick in die Welt, um unseren Standort zu bestimmen. Das ist wichtig, damit wir die Illusion nähren, Teil von etwas Größerem zu sein und nicht als kleines Teilchen einsam und verlassen im leeren Raum zu schweben.

Da wir alle mal kleine Kinder und fast leer waren, wissen wir instinktiv, das wir Hilfe brauchen bei der Deutung dessen was wir sehen. Eine Art Hilfe zur Selbsthilfe. Das ist ein Tisch, das ein Schrank, das ein Auto - all das muss uns einer einmal erklären. Später greifen wir dann ohne fremde Hilfe darauf zurück. Und wir müssen mit den Dingen, die wir sehen etwas verknüpfen. Wir müssen sehen lernen. Das geschieht nicht aus Selbstzweck. Es dient dem Überleben, auch dem emotionalen Überleben.

So kommt es, dass nicht nur die Fähigkeit zu sehen, sondern auch das was ich sehe wenn ich Lichtwellen auswerte, von dem abhängt was in mir drin ist. Aber wie ist es da hinein gekommen?

Nun, manch ein Psychotherapeut würde sagen: „Soso, Sie hatten also eine Mutter. Da haben wir doch das Problem!“. Aber ich hatte auch Lehrer, Freunde, einfach eine Umwelt, die mein Reflexionspotential angereichert hat. In einem langen Leben ist es meist mehr als in einem Kurzen, das muss aber nicht sein. Wenn man die Stereo-Kassette ein langes Leben hindurch immer mit dem selben Lied bespielt, kann man am Ende auch nur immer das selbe Lied hören. Es wird keine bunte Spotify-Playlist daraus.

Mein Büro liegt direkt an einem großen Spielplatz. Ein zentrales Element auf diesem Spielplatz ist ein großes Gerüst mit mehreren Schaukeln. Immer wenn ich den Blick aus dem Fenster richte, sehe ich dieses Bild. Es schaukelt jemand. Jeden Tag, seit Jahren. Gestern sah ich etwas anderes. Neben dem Kind, das auf der einen Schaukel saß, schaukelte auf der anderen Schaukel eine Frau, offensichtlich die Mutter. Sie war in Farbige Gewänder gehüllt und ganz dunkelhäutig. Auf dem Kopf trug sie ein Kopftuch oder eine Art Turban, irgendwas Geflochtenes. An ihren Seiten wehten farbige Gewänder in der Luft. Die Szene hatte etwas Erhabenes, das durch die Gleichmäßigkeit und Vorhersehbarkeit des Schaukelns gleichzeitig verstärkt und auch ad absurdum geführt wurde. Ich sah die Würde, den Stolz und die Erhabenheit einer Afrikanerin, ja eines ganzen Kontinentes aber das wirkte irgendwie fehl am Platze, so als würde dieses eine Detail aus einem anderen Bild, einer Szenerie in einer afrikanischen Savanne, herausgeschnitten und auf einen mitteleuropäischen Spielplatz eingefügt worden sein. Die belebende Fremdheit dieser bunten Gewänder, die dunkle Haut und das Bild das ich von dieser Frau im Kopf habe gehörte eindeutig an einen anderen Ort. Aber sie war real. Und da es keine anderen Menschen auf dem Spielplatz gab, als diese Frau und das Kind, wurde der ganze Platz davon überstrahlt. Die Frau verlieh der Tristesse des täglich Gleichen etwas Würdiges. Sie strahlte. Das „fehl an diesem Platz sein“ spielte keine Rolle mehr. Es wurde zu etwas das dorthin gehörte und auf das der Platz gewartet hatte. Genau wie bei einem Kunstwerk passierte etwas unwillkürliches in meinem Inneren, das ich nicht steuern konnte und dessen ich mir erst Sekunden später bewußt wurde.

Als meine junge Kollegin in diesem Augenblick das Zimmer betrat machte ich sie auf die Szene aufmerksam. Ich kann mich nicht genau erinnern, was ich sagte, irgend was in der Art „Schau mal wie toll!“. Ich kenne Menschen, die dann trotzdem etwas ähnliches sehen wie ich, auch wenn keine Beobachtungs-Anweisung dazu geliefert wird. Es entsteht dann eine eine Art Verstärkung, eine Resonanz. Man fühlt dann doppelt.

Aber diese Wirkung blieb diesmal aus. Die Lichtwellen beförderten etwas anderes aus den Tiefen meiner Kollegin: „Toll, sieht aus wie eine pinkfarbene Fledermaus“.

Und jetzt sah ich es auch!

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